Anton Friedrich Justus Thibaut (1772 - 1840),
Jurist und Musikschriftsteller
A.
F. J. Thibaut wurde am 1.4.1772 in Hameln als ältester Sohn des kurhannoverschen
Artillerie-Kapitäns Friedrich Wilhelm Thibaut und seiner Frau Antoinette
Friederike, geb. Grupen, geboren. Seine Jugend verbrachte er in Hameln, Harburg
und Hannover, wo er die traditionsreiche Lateinschule besuchte. Bereits hier
entdeckte er seine Liebe zur Musik, und er beschaffte sich ein altes, z.T.
saitenloses Klavier auf dem er nachts übte; daneben "erfüllten ihn in Hannover
die von den Chorknaben bei ihrem sonnabendlichen Umgange durch die Straßen
gesungenen Choräle mit hoher Seligkeit"1. 1787
verließ er, getragen von dem Wunsch Förster zu werden, die Lateinschule, kehrte
jedoch nach zweijähriger Ausbildung bei einem Forstbeamten an diese zurück und
beendete seine schulische Ausbildung.
Am 24.10.1791 nahm er ein Jurastudium
an der Universität Göttingen auf, wo er bis zum 31.5.1793 blieb und
möglicherweise auch an J. N. Forkels Musikunterricht teilnahm. Nach einem
einjährigen Aufenthalt an der Universität Königsberg, den er selber als
"philosophische Lustreise" bezeichnet und u.a. dazu genutzt hat, Kant zu hören,
setzte Thibaut sein Studium im Mai 1794 an der Universität Kiel fort, wo er im
November 1795 promovierte und sich Anfang 1796 habilitierte. Im November
desselben Jahres wurde er Adjunkt der Juristischen Fakultät und im Jahre 1801
dann schließlich ordentlicher Professor. Er folgte aber schon im nächsten Jahr
einem Ruf an die Universität Jena, die er nach drei Jahren wieder verließ, um
einen Ruf nach Heidelberg anzunehmen, wo er bis zu seinem Tode blieb. Von 1808
an stand er dort den neu ins Leben gerufenen Heidelbergischen Jahrbüchern als
Redakteur der Sektion Jurisprudenz und Staatswissenschaften vor, bis er sich
1822 nach einer Umbildung des Redaktionskollegiums aus diesem zurückzog und
stattdessen als Mitherausgeber in die Redaktion des "Archivs für die
civilistische Praxis" eintrat.
Auch in den folgenden Jahren ergingen noch
verschiedene Rufe an Thibaut (u.a.1828 an die Universität München und im
darauffolgenden Jahr an die Universität Leipzig), die er aber "aus moralischen
Gesinnungen für Heidelberg" ablehnte. Und so ernannte ihn die Stadt mit Diplomen
vom 10. und 11. 2. 1829 zu ihrem Ehrenbürger und zum Ehrenmitglied des
Stadtmagistrats, und im Mai 1830 verlieh ihm sein ehemaliger Schüler Großherzog
Leopold von Baden das Kommandeurskreuz des Zähringer Löwenordens mit Eichenlaub.
Daß Thibaut auch außerhalb Deutschlands geschätzt wurde, manifestierte sich u.a.
in seiner am 22.7.1838 erfolgten
einstimmigen Wahl zum korrespondierenden Mitglied des Institut de France,
Académie des Sciences morales et politiques,
Section de Légalisation.
Deutlich wurde die hohe Wertschätzung Thibauts
schließlich noch einmal bei der feierlichen Beerdigung des am 28.3.1840
Verstorbenen, zu der neben dem von Großherzog Leopold als Hofkommisar entsandten
Regierungsdirektor des Unter-Rheinkreises Josef Dahmen auch eine große Zahl von
Studenten erschien; die Trauerrede wurde von dem berühmten evangelischen
Theologen Richard Rothe gehalten. In der Zweiten Kammer der Badischen
Ständeversammlung in Karlsruhe gedachte man des Verstorbenen am Tage der
Beerdigung, dem 31.3.1840, indem man sich nach der Würdigung seiner Verdienste
zu einer Schweigeminute von den Plätzen erhob.
Neben seiner
juristischen Tätigkeit beschäftigte sich Thibaut zeit seines Lebens mit der
Musik (sowohl in praktischer als auch in theoretischer Hinsicht), und auch auf
diesem Gebiet hatte er große Verdienste. So gründete er schon lange vor der
Abfassung seiner berühmten Schrift "Ueber Reinheit der Tonkunst" (1824) um das
Jahr 1814 herum einen Singverein2, der in den
folgenden Jahren (bis 1833) regelmäßig donnerstags nach den erst später (in der
genannten Abhandlung) schriftlich fixierten Grundsätzen probte. Für diese Proben
begann er sich eine Sammlung mit Werken vornehmlich der älteren Vokalpolyphonie
des 16. bis 18. Jahrhunderts anzulegen, deren genauer Inhalt aus dem nach
Thibauts Tod gedruckten Verzeichniss der von dem verstorbenen Grossh.
Badischen Prof. der Rechte und Geheimenrathe Dr. Anton Friedrich Justus Thibaut
zu Heidelberg hinterlassenen Musiksammlung, welche als ein Ganzes ungetrennt
veräussert werden soll.3 hervorgeht.
In dieser Sammlung finden sich u.a. Werke von Allegri, Fux, Josquin, Palestrina,
Scarlatti sowie von Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach, Beethoven,
Haydn, Mozart und v.a. Händel, den Thibaut sehr hoch schätzte. Die Noten erhielt
er u.a. von Zelter, Goethe, Poelchau sowie A. Kestner, B. G. Niebuhr, G.
Sievers. Die Vereinigung von Werken so vieler unterschiedlicher Komponisten in
einer Sammlung erklärt sich durch den Verwendungszweck der Stücke als
Probenmaterial für den Singverein; denn Thibaut war der Ansicht, daß es
besonders wichtig sei, "daß in den vorzulegenden Stücken möglichst viel
Mannichfaltigkeit und Abwechslung herrsche, damit nicht Langeweile die
Mitglieder vertreibe und damit der Verein auch wirklich seinen
ästhetisch-historischen Zweck erreiche", denn es komme "in solchen Vereinen
nicht auf das genaue Einstudieren weniger Stücke, sondern auf das vergleichende
Kennenlernen möglichst vieler klassischer Stücke an."4
Zur Erreichung dieses Zwecks wurden Stücke z.T. gekürzt oder
einzelne Werkteile verschiedener Meister zum Vergleich nebeneinandergestellt wie
man es der "Chronologische[n] Zusammenstellung der im Thibaut'schen Singvereine
vom Herbst 1825 bis Frühjahr 1833 gesungenen Musikstücke"5 entnehmen kann. Dort lautet z.B. der Eintrag unter dem 29.
März 1827: "Kyrie v. Scarlatti. Kyrie v. Durante. Laboravi v. Caldara (3st.).
Accedentes aus d. Responsorien v. Vallotti. Motette: Mein Jesu, v. J. S. Bach.",
und unter dem 15. Juli 1830 findet sich "Auserlesenes aus d. Passionsmusik v. J.
S. Bach, aus Jephtha, Salomon, Saul und Theodora v. Händel, z. Gegensatze.
Kammerduetten v. Durante." Die durch das selbsterwählte Abwechslungsgebot
notwendige Kürze der einzelnen Stücke kann als Erklärung dafür herangezogen
werden, daß neben den genannten Werken Bachs nur noch "Mehreres aus einer
Messe v. J. S. Bach" zu den Proben herangezogen wurde, obwohl sich in der Auflistung der Werke
J. S. Bachs im Nachlaß Thibauts eine deutlich größere Anzahl von Bachschen
Vokalwerken findet. Am häufigsten (zehn mal im von der Liste erfaßten Zeitraum)
wurde bei den Treffen die Motette "Ich lasse dich nicht", BWV Anh. 159 gesungen,
die anfangs noch unter dem Namen J. S. Bachs verzeichnet ist. Am 30. August
erscheint sie dann allerdings als "Motette v. Gabriel Bach: Mein Jesu, nebst d.
Chorale v. J. S. Bach." mit dem Zusatz "(Thibaut erklärte, daß jene Motette
eigentlich v. G. Bach sei, u. daß J. S. Bach nur den Schlußchoral dazu gegeben
habe.)".
Warum gerade das Aufführungsmaterial zu dieser sowie der zweiten im
"Verzeichniss" genannten Motette "Jesu, meine Freude" zusammen mit einigen
Werken anderer Komponisten getrennt von dem in der Münchener Staatsbibliothek
aufbewahrten Großteil der Sammlung in das Musikwissenschaftliche Seminar der
Universität Heidelberg gelangt ist, ließ sich nicht mehr nachvollziehen.
1 Neuer Nekrolog der Deutschen. Achtzehnter Jahrgang, 1840. Erster
Theil. Weimar 1842, S. 357.
2 Evtl. handelte es sich auch nicht um eine
regelrechte Neugründung, sondern um die Weiterführung des Singkränzchens der
1811 verstorbenen Caroline Rudolphi unter seiner Leitung und in seinem eigenen
Haus.
3 Heidelberg 1842.
4 E. Baumstark: Ant. Friedr. Justus Thibaut.
Blätter der Erinnerung für seine Verehrer und für die Freunde der reinen
Tonkunst, Leipzig 1841, S. 154.
5 E. Baumstark: Anhang zu: Ant. Friedr.
Justus Thibaut. Blätter der Erinnerung für seine Verehrer und für die Freunde
der reinen Tonkunst, Leipzig 1841
Quellen:
- Neuer Nekrolog der Deutschen, Achtzehnter Jahrgang,
Erster Theil. Weimar 1842, S. ????
- Eduard Baumstark: Ant. Friedr. Justus
Thibaut. Blätter der Erinnerung für seine Verehrer und für die Freunde der
reinen Tonkunst, Leipzig 1841
- Rainer Polley: Anton Friedrich Justus
Thibaut (AD 1772-1840) in seinen Selbstzeugnissen und Briefen, Teil 1:
Abhandlung, Frankfurt am Main, Bern 1982
- Ursula Reichert: "Musik in
Heidelberg: Die Zeit der Romantik", in: Musik in Heidelberg1777-1885,
Ausstellungskatalog herausgegeben vom Kurpfälzischen Museum der Stadt
Heidelberg, Heidelberg 1985, S. 43-120
- Hans Hattenhauer: "Anton Friedrich
Justus Thibaut und die Reinheit der Jurisprudenz", in: Heidelberger
Jahrbücher XXXIV, hrsg.